Such dir einfach einen gemütlichen Platz zum Lesen, mach es dir bequem und lass die geflüsterten Worte des Tintenfasses auf dich wirken …
Ich liebe Spielzeugläden. Immer schon. Es ist mir auch völlig egal, dass ich manchmal befremdlich angeschaut werde, wenn ich als Erwachsene begeistert in der Schleich-Abteilung das Schlümpfe-Sortiment durchwühle, verliebt mit Steiff Schildkröten schmuse oder mit großen Augen das neuste Lego Star Wars Set bewundere. Besonders viel Spaß machen mir Spielzeugläden im Ausland, denn die landestypischen Spielsachen und Bücher haben für mich stets einen ganz eigenen Zauber. Und wie sehr liebe ich es, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in englischen Toy Shops Peter Rabbit durchzublättern, Thomas the Tank Engine durch die Gegend zu schieben, mit Winnie-the-Pooh und Paddington zu kuscheln – überhaupt ist ja Großbritannien eine meiner mächtigsten Feenstaubinseln.
Nach der letzten Erfahrung weiß ich aber nicht, ob ich überhaupt jemals wieder ein Geschäft mit Spielzeugen betreten möchte …
Und lass mich dich warnen: Schüttle niemals und nirgendwo eine unbekannte Schneekugel, denn du weißt nie, was dann mit dir passieren wird!
Gemeinsam mit ihren Freundinnen Maja und Janice verbrachte sie ein verlängertes Wochenende in London und sie genossen eine gelungene Mischung aus Sightseeing, Museumsbesuchen und Bummeln. Die pulsierende Lebendigkeit der Hauptstadt war für Körper, Geist und Seele immens anstrengend und zugleich unbeschreiblich revitalisierend; das so typische Paradoxon von Metropolen, wie es eben in Europa nur Paris, Berlin, Madrid, Rom oder auch London vermögen.
Heute stand der Stadtteil Brixton auf ihrer Erkundungsliste. Mit der Victoria Line fuhren sie in südliche Richtung, bis sie an der Brixton Station die Tube verließen. Die »People of Colour« mit ihren karibischen oder afrikanischen Wurzeln prägten das Stadtbild und verstärkten das Gefühl von Urlaub. Gemütlich und miteinander quatschten schlenderten sie die Electric Avenue entlang und ließen sich von dem fremdländischen Flair des Brixton Markets einlullen. Das Publikum war der Inbegriff von »multikulti«, Menschen aller Hautfarben und Kleidungsstilen, egal ob Brixton-Bewohner oder Touristen, vermischten sich und waren das menschliche Pendant zu der wilden Vielfalt der ringsrum angebotenen Ware. Aus weit geöffneten Wohnungsfenstern schallten »I Shot the Sheriff« und »Kingston Town« lautstark um die Wette, völlig in Gedanken versunken begann sie leise und reichlich schräg »No Woman, No Cry…« zu singen. Emotional fühlte sie sich weit weg in andere, ihr wohlbekannte Welten katapultiert. Immer noch singend reisten ihre Erinnerungsgedanken in den Souk von Agadir, in die Markthallen in Mindelo, Sal Rei und Praia oder an die Holzbuden Boca Chicas.
Je tiefer sie mit ihren Freundinnen in die Marktgassen eintauchte, umso mehr nahmen die Gerüche und kunterbunten Farben von Obst, Gemüse und Gewürzen aus der ganzen Welt sie gefangen. Rechts sah sie ausgefallene Kunsthandwerke im Wechsel mit blutbeklecksten Metzgern, links standen asiatische Supermärkte in Konkurrenz zu Streetfoodständen. Hier wurden Schallplatten und Bücher, dort Blumen und tote Meeresbewohner angeboten. Man konnte Perücken, Vintageklamotten, falsche Fingernägel, Elektrokram, Schnürsenkel kaufen. Staunend dachte sie im Stillen: »Geh nach Brixton und keiner deiner Wünsche bleibt unerfüllt. Wer braucht schon London City?«
Nach vielen Tagen des Dauerregens hatte die Sonne heute endlich wieder den Himmel erobert, sodass sehr viele Menschen die Chance nutzen, ohne Regenschirm Besorgungen zu erledigen oder Abwechslung in den eintönigen Alltag zu bekommen. Es war voll, laut und eng und es wurde zunehmend voller, lauter, enger.
Das Gewusel der dichter werdenden Menschenmenge, das Stimmengewirr der Händler und Passanten, die ständig wechselnden Gerüche, all das wurde ihr zu viel und sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. »Ihr Lieben, bevor wir im Brixton Village weitershoppen, brauche ich dringend ‘ne Auszeit von dem Treiben hier. Lasst uns doch erstmal Richtung Abuja Road zu den kleineren exotischen Lädchen laufen, vielleicht finden wir auch unterwegs ‘nen netten Pub für ‘ne Lunchpause!« Der nächste Pub ließ nicht lange auf sich warten und als sie eine gute Stunde später den »Quill & Inkpot« gut erholt verließen, war der Himmel schon wieder zugezogen und der Wind frischte unangenehm kaltböig auf. Unbeeindruckt vom englischen Wetter nahmen sie sich viel Zeit, durch die Läden mit traditionellen Haushaltswaren und Kleidungsstücken auf der Bridgetown Street und Port of Spain Road zu bummeln.
Die bis zur Decke vollbepackten und düsteren Geschäfte mit Kräutern aus Ghana, Trinidad und Tobago, mit den verschiedensten Schutzamuletten aus Barbados und Nigeria oder auch mit Vogelfedern und Hühnerkrallen aus Jamaika faszinierten sie besonders. Voodoo, Esoterik und Aberglaube zelebrierten hier in Brixton ihre eigene und so geheimnisvolle Magie.
Die Einkaufstaschen füllten sich mit exotischen Pluderhosen, Tees und handgefertigtem Schmuck. Die Händler nahmen sich viel Zeit, mit ihnen über Spiritualität und Kräutermedizin zu plaudern, zumal sie alle drei beruflich mit Medizin zu tun hatten. Eine steinalte Kräuterfrau mit schneeweißem, krausem Haar und faltenzerknautschtem Gesicht erzählte bereitwillig von ihrer Berufung als Geistheilerin und wie erstaunt sie sei, von deutschen Touristinnen besucht zu werden: »Visitors are rare in this notorious neighbourhood!« Zum Abschied schaute sie ihnen der Reihe nach so intensiv in die Augen, als würde sie tief in ihre Seelen blicken und legte ihnen verschiedene, gezielt ausgewählte Schutzsteine in die Hände. Tief berührt verließen sie das Lädchen und für einen kurzen Moment herrschte Stille zwischen ihnen, zu sehr waren sie in ihren eigenen Gedankenwelten.
Auf der schmalen, aber lebhaften Abuja Road angekommen, begaben sich Janice und Maja auf die Suche nach Tüchern, als sie von hinten einen kleinen Freudenschrei wahrnahmen: »Oh, oh, endlich mal wieder ein Spielzeugladen und es ist kein Smyths, schaut doch mal!« Zu dritt standen sie auf der gegenüberliegen Straßenseite des Ladens und begutachteten die Aufschrift auf der kleinen Fassade:
Whispering Nightmares
Afro-Caribbean Mystical Crafts & Toys
» ›Flüsternde Albträume‹ klingt ja schon ‘en bisschen unheimlich«, merkte Maja an, während Janice schon wieder auf der Jagd nach Tüchern war. »Naja, Maja – es könnte auch mit ›Flüsternde Nachtmahre‹ übersetzt werden, DAS wäre unheimlich! Stephen King lässt grüßen, hat was ‘was von ›Needful Things‹, oder? Ich gehe da mal rein, ihr könnt ja gleich nachkommen, wenn ihr mit den anderen Shops durch seid«, entgegnete sie grinsend und entschwand durch die geöffnete Türe ins düstere Ladeninnere.
Kaum über die Schwelle getreten, hatte sie das Gefühl nicht mehr in England zu sein. Die Luft war mit einem fremdartigen Duft geschwängert, der sie an eine Mischung aus Räucherkerzen, brennenden Baumrinden und süßlichen Kräutern erinnerte. Überall an den dunkelbraunen Wänden hingen gruselige Gesichts- und Tiermasken und verstörende abstrakte Bilder. Der Laden wirkte innen weitaus größer als von außen, was natürlich gar nicht sein konnte. Vorbei an Musikinstrumenten und großen aggressiv anmutenden Skulpturen lief sie auf einen Tisch mit hohem Bücherstapel und dicken schwarzen Kerzen zu. Das oberste Werk handelte von irgend-welchen Labyrinth-Alben, neben ihm standen einladend eine dampfende Teekanne, bauchige Becher und ein Teller mit grünlichen Kräuter- und verschiedenfarbigen Blütenkekse. Sie rief ein zaghaftes »Hello«, bekam aber keine Antwort.
Wie aus dem Nichts stand dann plötzlich eine großgewachsene, schlanke Frau neben ihr und sie fuhr kurz vor Schreck zusammen. Die Frau trug bunte Batikkleidung und hatte ihre Haare in perlenverzierte Zöpfchen geflochten. Völlig irritiert schaute sie auf die Haare, diese Haare waren nicht nur blond, sondern sonnenblumengelb – so einen Naturfarbton hatte sie noch nie zuvor gesehen. »Herzlich willkommen bei Whispering Nightmares, ich bin Summer. Magst du zur Begrüßung einen Becher afrikanischen Tee mit karibischen Keksen?« Auf ihre Floskel »Oh, du sprichst Deutsch«, gab die Ladenbesitzerin nur ein knappes »I know!« zurück, goss ohne eine weitere Antwort abzuwarten Tee ein und drückte ihr sehr bestimmend den Becher inklusive Kekse in die Hände.
Tee und Kekse schmeckten merkwürdig und hatten einen befremdlichen Beigeschmack. Die bunt gekleidete Frau registrierte zufrieden, wie ihr Snack vertilgt wurde und erzählte endlos von den Raritäten, die sie anbieten würde. Egal ob Kunsthandwerk, Schmuck, Kleidung, Zutaten für Beschwörungen oder Kräuter und Heilpflanzen – unzählige Geschäfts- und Privatkunden würden ihre Waren nur bei ihr kaufen, vor allem aber seien es Heiler, Schamanen, Voodoo-Priester und -Priesterinnen, die ihre ausgefallenen Utensilien im Whispering Nightmares besorgen würden.
Gelangweilt kauend dachte sie darüber nach, wie sie möglichst schnell das Weite suchen könnte, als sie Flügelschlagen hörte. Ein großes, schwarzes, stinkendes, Vogelwesen landete auf der Schulter der sonnenblumenblonden Frau und sie bekam Gänsehaut. Dieses Wesen wirkte durch und durch tiefböse, hatte blutrote stechende Augen, einen gelben Schnabel und befremdlich menschliche Züge. Flüsternde Nachtmahre…spooky! Ihr wurde schummrig und wenn sie auf die Skulpturen oder Masken schaute, hatte sie den Eindruck, dass die lebendig wurden und die Farben auf den Bildern zu tanzen begannen.
Sie probierte es mit Selbstberuhigung: »Es ist alles gut, Zoë, du bist nur in ‘nem sehr abgefahrenen Laden bei ‘ner völlig durchgeknallten Alten mit ‘nem echt widerlichen Haustier«, dann hinterfragte die Frau namens Summer, was sie denn suche. Umständlich und etwas wirr erzählte sie von ihrer Liebe zu Spielzeugläden und dass sie deshalb hereingekommen sei. Schon fast euphorisch und theatralisch riss Summer die Augen auf, rief mit unangenehm lauter Stimme: »Oh my God, dann bist du hier genau richtig!« und schob sie vorwärts Richtung Regale.
Bereits die ersten Wandgestelle waren mit Spielzeugwaren bestückt und das Kind in ihr erwachte, als sie handgefertigte farbenfrohe Stoffpuppen, tierlederbespannte Kindertrommeln und aus Holz oder Kokosnussschalen geschnitzte Spielzeuge und Tierfiguren genau anschaute. Irritiert bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten und sich eine fiese Übelkeit in ihrem Magen ausbreitete. Als sie sich umschaute, verschwamm die Umgebung ineinander und sie fühlte sich wie einem wahnhaften Fieberalbtraum. In den Raumecken glaubte sie gruselige Fratzen wahrzunehmen und hatte das Gefühl, dass noch mehr dieser nach Verwesung stinkenden Federnmonstern verborgen auf den Regalbrettern lauern würden. Laut sagte sie zu sich selbst: »Schnuckel, du halluzinierst, diese durchgeknallte Frau hat dich vergiftet!«. Ohne, dass sie es bemerkte hatte, stand die Ladenbesitzerin nun so dicht hinter ihr, dass sie ihren penetrant süßlichen Atem riechen und im Nacken spüren konnte. »Nein, nicht vergiftet, German Lady, ich eröffne dir nur Dank meiner Pflanzen einen psychedelischen Pfad in die verbotenen Abgründe deines Inneren, warte ab. Husch, move on!«
Gehorsam stolperte sie die Gänge weiter entlang, betrachtete alles mit großen Augen und weiten Pupillen, bis sie zu landestypischen Brettspielen wie Mancala kam. Rasch entdeckte sie Ouril, was hier genau wie auf den Kapverden mit weißen Bohnen als Spielsteine bestückt war. Als sie aber das Spielbrett aus dem Regal nahm, waren die Spielsteine keine ovalen Bohnen mehr, sondern in jeder Kuhle lagen nun kleine weiße, menschliche Milchzähne. Mit einem entsetzten Aufschrei ließ sie das Spiel zu Boden fallen und als sie sich fluchtbereit herumdrehte, prallte sie mit ihrem Gesicht in das widerliche Gefieder der Vogelkreatur, die auf Summers Schulter saß. »Oh no, Zoë, du kannst noch nicht gehen, du hast noch nicht in deine Abgründe geschaut!« Nuschelnd gelang es ihr nur schwer, die Frage nach dem Sinn des Ganzen zu stellen, aber die sonnenblumenblonde Frau antwortete nur kalt: »Weil ich es kann, allein deshalb!« Ihr Einwand: »Meine Freundinnen werden schon auf mich warten und sich Sorgen machen, ich muss gehen.« wurde einfach ignoriert und mit dem nächsten Schubser ging sie stumm die Reihe weiter.
Mittlerweile war sie nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, ob sie Sinnestäuschungen, Trugbilder oder auch Wahrheiten wahrnahm, denn egal wo sie hinschaute, veränderten sich die Dinge. Bunte Murmeln verwandelten sich in farbige blutunterlaufene Augäpfel und Tintenfässer waren plötzlich anstelle von schwarzer Tinte mit Blut gefüllt. Je weiter sie an den Regalbrettern entlanglief, umso mehr nahm der psychodelische Horror zu. Springseile sahen wie Gedärme aus, aus Bällen wurden kreischende Schrumpfköpfe und auf einer großen menschenhautbespannten Trommel waren ihre beiden eigenen Tattoos zu sehen. Das ganze hier war ein schlechter, ganz schlechte Psychedelika-Trip und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm entkommen konnte…
Nach weiteren Wandgestellen kam sie zu einem riesigen Sortiment unterschiedlichster Schneekugeln. Die Figuren unter den Glaskuppeln wirkten erschreckend lebendig, so wie zunächst grausam verkleinert und dann eingesperrt. Die Ladenbesitzerin trat erneut bedrängend eng neben sie, während das stinkende Etwas mit einem schrillen Schrei auf das oberste Bord flog und sie mit stechendem Blick fixierte. »Come on, Zoë, wähle deine Schneekugel und schüttele sie. Alles was du sehen wirst, ist ohnehin bereits tief in dir versteckt.« Blinzelnd und fahrig schaute sie auf die große Anzahl von Schneekugeln und wie magisch angezogen, streckte sie die rechte Hand aus und ihre zittrigen Finger griffen gezielt nach einer Kugel weit hinten. Durch das angestaubte Kuppelglas konnte sie in der klaren Flüssigkeit nur eine eingeklebte große Wohnung erkennen. »Shake your Snow Globe, Zoë!« Erschrocken schaute sie sich um und glaubte höhnisches Gelächter und gemeine, feixende Sprüche zu hören, schüttelte dann aber wie befohlen die von ihr ausgewählte Schneekugel.
Als der Schneesturm sich langsam in der Kugel beruhigte und die kleinen Partikel Richtung Boden schwebten, konnte sie in die Wohnung hineinblicken. In dem sich senkenden Glitzerschnee beobachte sie in einem hell erleuchteten Kinderzimmer, wie sich ein ihr sehr bekannter Mann über ein ihr sehr stark ähnelndes kleines Mädchen beugte. Als das kleine Mädchen aus dem Inneren der Kugel panisch zu ihr emporblickte und hilfesuchend den direkten Blickkontakt herstellte, sah sie die blanke Todesangst in den braunen Kinderaugen …
Janice und Maja diskutierten gerade die Dekoration im Schaufenster des Whispering Nightmares, als sie einen gellenden Schrei aus dem Ladeninneren hörten. Sie stürzten in den Shop und fanden die Freundin heulend und wimmernd in Embryostellung auf dem Fußboden zwischen den Warenregalen. Mit blutenden Händen umklammerte sie eine zerschmetterte Schneekugel mit dem eingeklebten Motiv einer großen Wohnung. Beide Frauen schauten entsetzt auf sie runter, als sie Summers Stimme hörten: »Ich habe eure Freundin nur eine verbotene Wahrheit sehen lassen. Möchtet ihr zwei auch eine Schneekugeln wählen? Janice, was ist mit dir? Oder vielleicht lieber du, Maja?« Dann lachte die bunt gekleidete Ladenbesitzerin verächtlich laut auf, warf ihre sonnenblumengelben, perlenverzierten Zöpfchen über die Schultern und verschwand mit ihrer Kreatur in der Dunkelheit des Whispering Nightmares.
(April 2024)
Mit hektisch-panischen Blicken gingen die Frauen in die Hocke und sprachen angsterfüllt durcheinander: »Mein Gott, Zoë, was ist denn nur passiert?«; »Zoë, bitte steh‘ auf, wir müssen hier raus, SOFORT, Zoë, bitte…«; »Du blutest ja, hast du Schmerzen?«
Weiter wimmernd drehte sie langsam ihren Kopf und schaute mit leerem, stumpfem Blick auf die zerstörte Schneekugel in ihren blutverschmierten Händen. Der Fußboden ringsherum um sie war nass von der Füll-flüssigkeit, ihre Jeans blinkte vor lauter Glitzerschnee und Glaskuppelscherben spiegelten sich in dem düsteren Schein der Wandleuchten. Als sie sich unbeholfen aufsetzte, schien auch ein wenig Lebendigkeit in ihre Augen zurückzukehren. Mit einem erneuten markerschütternden Schrei, geprägt von lebenslanger Wut und tiefem inneren Schmerz, schmetterte sie das Überbleibsel der Schneekugel mit der eingeklebten Wohnung so hart gegen die gegenüberliegende Wand, dass sie endgültig in unzählige Einzelstücke zerbarst.
Janice half der zitternden und wankenden Freundin auf die Füße, während Maja Berge von Taschentüchern aus ihrem Rucksack wühlte und vorsichtig auf die blutigen Schnitte in beiden Handtellern legte. »Bloß schnell weg von diesem verfluchten Ort und dieser schrecklichen Hexe, dann muss du uns erzählen, was passiert ist. Zoë, was hast du so komische Pupillen, bist du etwa zugedröhnt? Was hat diese Frau denn nur mit dir gemacht?«, rief Janice, während Maja sie mit dem Arm um die Hüfte zu stützen versuchte.
Ein unerträglich schrilles und lautes Lachen zerschnitt den kurzen Moment der Stille im Whispering Nightmares und als sich die Frauen erschrocken im Gang Richtung Ladenausgang umdrehten, stand plötzlich Summer mit dem ekelhaften Vogel auf der Schulter erneut bedrohlich vor ihnen. »You are so sickly sweet together, girls! Aber sorry, es ist noch keine Zeit zu gehen!«
Mit verwaschener Sprache stammelte sie kaum verständlich: »Was willste denn noch von mir, du bösartiges Wesen? Lass uns gefälligst gehen!« Das Federnmonster fixierte sie einer nach der anderen mit blutrünstigem Blick und schlug so heftig mit den Flügeln, dass die Luft augenblicklich von einem abscheulichen Gestank nach Verwesung, Tod und Morast erfüllt war. Maja vermochte sie nicht mehr halten, sie brach in die Knie und übergab sich heftig. »Na super, da kotzt die Kraut mir meinen schönen Laden voll. Damned, reiß dich gefälligst zusammen!«
Gefühlt wurde die Luft immer enger und die Lichtkegel der Wandlampen kleiner und schwächer. Je dunkler es wurde, desto mehr blutrote Augenpaare leuchteten auf den Regalbrettern auf. Die drei Frauen rückten wortlos enger aneinander und schauten sich entsetzt um. Wieder war es die Ladenbesitzerin, die an ihren Perlenzöpfchen spielend das Wort ergriff: »Hey Ladies, das ist unter anderem ein toyshop, so let’s have fun together. Wir gehen jetzt alle brav zusammen nach vorne, trinken einen schönen Tee und naschen hausgemachte Kekse, all right?«
Das dämonische Haustier stieg von Summers Schultern auf und flog mit lautem Krächzen in den Eingangsbereich, während die sonnenblumenblonde Frau in aller Ruhe und ohne sich umzublicken an den Regalen vorbei zum Büchertisch schlenderte.
Auf dem Weg nach vorn schreckte sie immer wieder zusammen, presste sich die blutverschmierten Handballen auf die Ohren und schaute mit angsterfülltem Blick gestresst umher. So leise flüsternd wie möglich, fragte sie ihre Freundinnen, ob sie auch all die schrecklichen Dinge in den Regalen sehen und hören würden, aber weder Maja noch Janice hatte den Hauch einer Ahnung, was gemeint sein könnte. Sie schüttelten nur irritiert die Köpfe.
»Tea time, girls!«, säuselte Summer und schaute zunächst Janice und dann Maja intensiv und prüfend an. Verschlagen lächelnd fragte sie ihr Haustier, welche Frau sie wohl wählen solle, nickte dann selbstzufrieden und drückte Maja einen dampfenden Becher und einen gut gefüllten Teller in die Hände. »Ich hatte es schon eurer Freundin erklärt; Tee und Kekse sind homemade – haben besondere Wirkung. Du wirst es genießen, Maja. Oder wir machen es auf Goethe-Art: ›und bist du nicht willig…‹, ach, du weißt bestimmt selbst, wie das beim Erlkönig endet!«
Voller Sorge, was Maja wohl widerfahren würde, schleppte sie sich erschöpft auf einen Stuhl, legte Kopf und Hände neben den großen Bücherstapel und schloss die Augen. Augenblicklich fauchte die Ladenbesitzerin: »Nimm sofort deine greasy bloody hands von meinem schönen Tisch and don’t you dare touch these books! Und hey du, du trinkst jetzt den Tee und isst meine biscuits, sonst hetze ich meine Gefährtin auf dich!« Janice rief Maja warnend zu, das Teufels-gebräu bloß nicht anzurühren, als sich die Kreatur sogleich aufplusterte und die Schwingen breit ausstellte, geradeso, als hätte sie die Worte ihrer Herrin genau verstanden. Vom Mut verlassen begann Maja langsam und widerwillig ihren Afro-Caribbean Tea einzunehmen.
Schweigend und ängstlich beobachteten die Freundinnen, wie Maja angeekelt einen Keks runterwürgte und den Teebecher schlückchenweise leerte. Summer hingegen begann sichtlich gut gelaunt vor sich hinzuplappern und belobigte sowohl ihre Ladenware als auch die Exklusivität der psychedelischen Trips, die sie ihrer Kundschaft anzubieten vermochte. »Ja, die Auswahl der Zutaten, das ist eine hohe Kunst. Eine Klitzekleinigkeit zu viel von diesem oder jenem und dein heißersehnter Wunschtraum verwandelt sich in die reinste Albtraumhölle. Ist es nicht aufregend, was mit euch passieren wird? So exciting!«
Nervös schaute sie immer wieder zu Maja, ob und wie Tee und Keks zu wirken beginnen würden. Auf der Suche nach einem neuen Taschentuch griff sie in ihre Hosentasche und berührte dabei zufällig den Schutzstein der uralten Kräuterfrau. Ab diesem einen, schmetterlingsflügelschlagähnlich kurzen Moment fühlte sie sich wieder klarer und freier im Kopf, zeitgleich wirbelten Ladenbesitzerin und Vogelviech wie vom selben Blitz getroffen zu ihr herum. Auch sie mussten etwas gespürt haben, dann aber schrie Maja verschreckt auf und kreiste kreidebleich mit wirren Blicken durch den Laden. »Oh, nein, Maja, was siehst du? Was hörst du? Sprich mit uns, wir sind doch hier! Maja, Janice und ich sind hier bei dir!«, rief sie auf ihre Freundin zulaufend. »Wenn du auch nur einen Schritt weitergehst, seid ihr alle tot!«, knallte Summers Stimme wie eine schallende Ohrfeige durch das Whispering Nightmares, »Got it?« Wie eingefroren blieb sie sofort stehen und Janice stellte sich stumm neben sie.
Tränen liefen Maja über die Wangen, als sie mit verwaschener Sprache zu erklären versuchte, was sie wahrnahm: »Es riecht so furchtbar … so ekelhaft nach Muttis warmer Hafermilchsuppe … mir wird schlecht. Ich bin noch klein und überall ist Streit. Meine Mutter streitet sich furchtbar mit meiner Schwester, meine Brüder prügeln sich, ich halte das nicht aus. Überall, überall, der Geruch von Hafersuppe und diese lautstarken, aggressiven Streitereien … ich kann dem nicht entkommen, ich bin doch noch viel zu jung…!«
»Okay, Maja, ich glaube, du bist soweit. Wir gehen jetzt alle zusammen mit dir zu dem Regal mit den Snow Globes und dort wirst du die deinige wählen. Go!«, befahl Summer ohne jedes Mitleid und schubste sie vorwärts.
Ähnlich wie sie selbst zuvor, stand auch Maja schließlich vor dem großen Sortiment der lebendig wirkenden Schneekugeln und auch ihre zitternde Hand traf zielgerichtet sehr schnell die Ent-scheidung. Als die Freundin in die Kugel blickte, schien sie Böses zu ahnen, denn ihre Pupillen erweiterten sich extrem. »Shake your Snow Globe, Maja!«
Mit zusammengekniffenen Lippen und tränenüberströmten Gesicht schüttelte Maja ihre Schneekugel und beobachtete mit starr geweiteten Pupillen, wie der sich legende Glitzerschneefall den Blick auf einen Torbogen in einer berüchtigten großen Hochhaussiedlung mit grünlichen Anstrichen und einem kleinen blonden Mädchen freigab. In diesem Torbogen hatten mehrere Jugendliche mal wieder das Mädchen eingekreist und schubsten sie laut lachend und beschimpften herum und schlugen sie. Während den Jugendlichen die sadistische Freude an der Quälerei des Kindes anzusehen war, standen dem kleinen blonden Mädchen die nackte Panik und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.
Maja stand absolut regungslos mit ihrer Schneekugel in der Hand und ihr Inneres schien in der Kugel genauso ohnmächtig wie das kleine Mädchen in dem Torbogen gefangen zu sein.
In der Hoffnung, Maja zu erreichen, klatschte sie laut in ihre blutbesudelten Hände und während sich Janice, die sonnenblumenblonde Frau und das stinkende Etwas sichtlich erschraken, zeigte Maja nicht die Spur einer Reaktion. »Jetzt reicht es aber!«, schnauzte Janice, entriss der offensichtlich weggetretenen Freundin die Schneekugel und warf sie mit aller Kraft auf den Boden. Sofort eilte sie Janice zur Hilfe und zertrampelte wutentbrannt jedes einzelne Bruchstück in kleinste glitzerstaubglänzende Splitter. Summer schrie empört auf, Maja taumelte benommen mit weit aufgerissenen Augen zur Seite und die Kreatur flog eine aggressive Attacke, der Janice und sie nur um Federsbreite ausweichen konnten.
In Sekundenschnelle erlangte die bunt gekleidete Ladenbesitzerin des Whispering Nightmares ihre Contenance zurück und sprach mit so ruhiger und klarer Stimme, dass es nicht menschlich anmutete: »Ich, ich bin die Hexe des Südens, merkt euch das! Undank und Respektlosigkeit – das ist euer wahrer Charakter. Zweien von euch haben meine Snow Globes Einblicke in jene flüsternden Albträume ermöglicht, über die nicht gesprochen werden darf. Die dritte von euch hätte in ihrer Snow Globe ihren innigsten Lebenstraum entdeckt. Well, Janice, du hättest die Welt deiner Snow Globe nie wieder verlassen wollen – tough luck. Ihr aber seid noch nicht mal auch nur eine meiner wertvollen Blüten und Pilze wert und wisst mein Geschenk an euch überhaupt nicht zu würdigen. Schande über euch alle drei! Get lost und kommt niemals wieder!«
Aus allen Richtungen stiegen gefiederte Kreaturen mit blutroten Augen und gelben Schnäbeln aus den Regalen auf und umflogen die Frauen mit lautem Geschrei und nach vorne gestreckten Krallen.
Maja stöhnte hilflos, dass sie wahnsinnig werde und den ganzen Irrsinn nicht mehr aushalte, als sie ihr zuraunte, sie solle ihren Schutzstein berühren.
Wie auch immer gelang es ihnen, den Ausgang zu erreichen, bevor sie von den diabolischen Kreaturen zerfetzt wurden.
Als wir völlig erschöpft und verwirrt aus dem Whispering Nightmares gestolpert kamen, schüttete es aus allen Kübeln. Der eiskalte Brixton-Regen aber tat unbeschreiblich gut und fühlte sich so beruhigend real und lebendig an. Voller Mitleid und großer Besorgnis checkte Janice unseren Zustand; zwei leichenblasse, verheulte und wie Espenlaub zitternde Freundinnen nach einem unfreiwilligen Bad Trip in einem mystischen Craft- & Toyshop …
»Wenn es morgen früh im Hotel Porridge gibt, übernehme ich keine Garantie für mich … und wie sehr habe ich diesen Torbogen gehasst!«, murmelte Maja mit kraftloser Stimme.
Die Regentropfen vermischten sich mit meinen blutgetränkten Taschentüchern und absolut fasziniert schaute ich mir das Wasserfarbenspiel der Rottöne an – ich hing wohl immer noch ein bisschen in meinem psychedelischen Höllenalbtraum fest. »Ich werde nie wieder in meinem Leben, nie wieder, eine Schneekugel schütteln! Nie wieder! Und ob ich jemals wieder einen Spielzeugladen betreten werde, weiß ich auch noch nicht!«, fluchte ich vor mich hin und starrte weiter auf die Papiertücher.
Janice warf uns überforderte Blicke zu und bat uns inständig, ihr alles zu berichten, sobald es uns möglich wäre. Mir gelang es, meinen Blick von dem rötlichen Farbenspiel loszureißen. »Mädels, es ist mir so was von egal, ob das nun gut ist oder nicht, aber bitte lasst uns im Quill & Inkpot ein riesiges Bier trinken gehen! Oder auch zwei oder drei! Auf dem Weg dorthin kann ich mir auch direkt Pflaster und Jod besorgen.«, bat ich meine mir müde zustimmenden Freundinnen.
Wir waren noch nicht weit gekommen, als uns die steinalte Kräuterfrau mit dem schneeweißen, krausen Haar und dem faltenzerknautschten Gesicht pitschnass in dem prasselnden Regen entgegengeschlurft kam. »I feared it! You guys shook Summer‘s Snow Globes in the Whispering Nightmares! But you are all still alive, fine!« Völlig perplex brachten wir nicht mehr als ein »Thank you so much!« hervor, aber die Geistheilerin winkte einfach nur ab. Wortlos schlurfte sie ihren weiteren Weg durch die tiefen Pfützen der Abuja Road und wir, wir liefen Richtung Pub – Hauptsache weg von verhexten Schneekugeln und dem Whispering Nightmares.
Unbekannte Schneekugeln sollte man niemals schütteln – man weiß nie, welche Wahrheiten sich in ihnen verbergen…
(für meinen Lieblingsmenschen, September 2024)
Labyrinth-Alben gibt es seit Anbeginn der Zeit und solange die Menschheit existiert, werden auch Labyrinth-Alben existieren. Sie sind tiefböse, parasitäre Geschöpfe der Finsternis und leben meist gut verborgen in der inneren Welt eines Menschen.
Labyrinth-Alben schlüpfen, wenn dem kleinen oder großen Menschen etwas Schlimmes widerfährt, und nisten sich so tief in der Seele ihres Wirts ein, dass er sich nur äußerst selten wieder von ihnen befreien kann.
Ist der erste Labyrinth-Alb einmal geschlüpft, dann vermehrt er sich mit jeder weiteren furchtbaren Erfahrung, die der Mensch erleiden muss. Je jünger der Mensch und je vielfältiger die seelischen Qualen sind, umso schneller wächst der Schwarm. Es gibt also Menschen ohne Labyrinth-Alben, Menschen mit ein, zwei oder mehreren, aber auch Menschen mit so vielen dieser Kreaturen, dass sie den inneren Himmel verdunkeln. Tiere können bestimmt auch solche Alben haben, aber genau weiß das niemand.
Labyrinth-Alben ernähren sich von der Angst, Furcht, Qual und dem körperlichen oder seelischen Schmerz ihres Wirts. Je mehr Nahrung sie finden, umso größer, stärker und mächtiger werden sie. Sie lieben das Salz in den Tränen oder im Angstschweiß der Leidenden und sind geradezu versessen auf unschuldige Kindertränen, weshalb sie in den vergangenen Kulturen der Alten Welt auch »Salzmahre« genannt wurden.
Die meisten Labyrinth-Alben haben eine hässliche menschliche Fratze, einen gebogenen, großen Schnabel und rasierklingenscharfe Krallen. Ihr tiefschwarzes Federkleid ist dicht und fettig und so bestens dafür ausgerichtet, durch innerliche Stürme und Gewitter zu fliegen. Der Körper dieser Albenart ist übersät mit umherkriechenden, fleischigen weißen Maden und Würmern, bei älteren Exemplaren sind die sogar so zahlreich, dass sie durch das Gefieder und aus den Nasenlöchern krabbeln. Für manche Menschen sehen Labyrinth-Alben auch ganz anders aus, denn sie gehören den Gestaltwandlern an. Ihnen allen ist gemein, dass sie abscheulich nach Verwesung, Tod und Morast stinken.
Menschen bemerken immer nur die eigenen Labyrinth-Alben, aber nicht die der anderen, weshalb ihnen oft nicht geglaubt wird, wenn sie von ihren Alben berichten. Selbst der Wirt kann seine Parasiten in seiner eigenen Wahrnehmung selten klar und deutlich sehen, meist sind sie nur schattengleich aus dem Augenwinkel wahrzunehmen. Manche Wirte wissen noch nicht einmal, dass Labyrinth-Alben in ihrem Inneren leben und sie quälen.
Insbesondere bildende und darstellende Künstler reagieren sehr sensibel auf ihre Labyrinth-Alben.
Seit jeher und in allen Kulturen drücken Musiker ihren inneren Schmerz auf völlig unterschiedliche Weisen in ihren Texten und Musikstilen aus. Auch Schriftsteller und Dichter erzählen in ihren Werken von psychischen Qualen und Labyrinth-Alben. Johann von Goethe beschreibt sehr ergreifend in der Ballade »Erlkönig« die Heimtücke des Albs, die grauenvolle Todesangst des Jungen, der diese Kreatur sehen, hören, sogar spüren kann und die völlige Hilflosigkeit und Unwissenheit des Vaters. Goethe scheint sich überhaupt gut mit Labyrinth-Alben ausgekannt zu haben. Viele weitere Vertreter der Weltliteratur wie Edgar Allan Poe, E.T.A. Hoffmann, Stephen King und J.K. Rowling ermöglichen in ihren Werken ebenfalls Einblicke in tiefe seelische Abgründe mit inneren Dämonen und Alben. Delia Owens erzählt in »Where the Crawdads Sing« auf unvergleichlich schrecklich-schöne Weise von dem seelischen Martyrium des Marschmädchens Kya, der Entstehung ihrer Labyrinth-Alben und den lebenslangen Peinigungen durch sie. Edvard Munch oder Vincent van Gogh hingegen beschrieben ihre Seelenparasiten weder durch Worte noch durch Musik, sondern gaben ihnen äußere Gestalt in ihren Gemälden. Vaslav Nijinsky vertanzte seinen inneren Wahnsinn auf der Ballettbühne und Regisseure wie Roman Polanski, Alfred Hitchcock oder Stanley Kubrick brachten die Niedertracht der Labyrinth-Alben auf die Kinoleinwände.
Je verzweifelter der menschliche Wirt ist, umso aktiver werden die Labyrinth-Alben. Dann fliegen sie gemeinsam aus dem Inneren Verlies auf und schwärmen aus. Sie lieben peitschenden Regen, Hagel, Wind, grelle Blitze und ohrenbetäubenden Donner. Je mehr sich der Himmel durch das innere Unwetter verdunkelt, umso wohler fühlen sie sich. Aber am allermeisten lieben sie es, wenn ihr Wirt durch erneute gewaltvolle Erfahrungen oder qualvolle Erinnerungen seelisch aus dem Gleichgewicht gerät. Je überraschter, unvorbereiteter der Wirt und je grausamer, vielschichtiger, was ihm gerade widerfährt oder zugestoßen ist, umso schöner ist es für die Labyrinth-Alben. Dann kreischen sie erfüllt von Hohn, Gehässigkeit und Häme laut auf, was dem armen Wirt noch schlimmere Angst macht.
Die engsten Verbündeten dieser Kreaturen sind Nachtmahre und andere innere Dämonen wie der wiederkehrende Albtraum, die kraftraubende Schlafstörung, der grausame Flashback, die verstörende Dissoziation oder die paradoxe emotionale Abhängigkeit von den menschlichen Peinigern. Depression, Angststörung, Suizidalität, Selbstverletzung, Essstörung, Paranoia, Borderline, Phobie, posttraumatische Belastungsstörung und dissoziative Identitätsstörung sind ihre Kraftquellen in einem teuflischen Schlaraffenland – hier hinein versuchen die Labyrinth-Alben und ihre Dämonenfreunde den Wirt zu jagen und festzuhalten.
Mit verzweifelten Gedanken gefüllte Tagebücher und Fachliteratur über psychische Störungen sind für diese tiefbösen Wesen die reinsten Gourmetkochbücher. Orte wie geschützte Psychiatriestationen, Frauenhäuser, Obdach- und Asylbewerberheime, Intensivgruppen der Jugendhilfe, Jugendschutzstellen oder Entzugskliniken gleichen 5-Sterne-Resorts mit riesiger Partystimmung, weil dort das geballte Leiden vieler Wirte, deren Albenschwärme und andere innere Dämonen aufeinandertreffen. Ganz besondere Ekstase kommt auf, wenn den traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen des Menschen kein Glauben geschenkt wird.
Aber Labyrinth-Alben sind auch dumm und manchmal so richtig dumm. Sie merken einfach nicht, wann die menschliche Leidensgrenze erreicht ist. Wenn sie es übertreiben und ihren Wirt zu sehr in die Dunkelheit zwingen, verliert der Mensch jeden Lebensmut oder verfällt dem völligen Wahnsinn und sorgt letztlich selbst dafür, dass die unerträglichen Qualen endlich vorbei sind. Das Problem dabei ist nur, dass der Labyrinth-Alb nicht ohne seinen Wirt existieren kann und wenn der Mensch stirbt, muss auch der Alb sterben. Auffallend viele künstlerische Genies haben aus absoluter Verzweiflung den finalen Ausweg gewählt. Heinrich von Kleist, Virgina Woolf, Ernest Hemingway, Curt Cobain, Avicii, Robin Williams und Jonas Constantin Langner sind nur einige von ihnen. Die Anzahl der direkten und indirekten Todesopfer der Labyrinth-Alben ist unendlich.
Die inneren Alben und Dämonen haben jedoch auch Widersacher. Gefährlichste Gegner sind jene Menschen, die den Wirt in seinem Leiden verstehen, ihm glauben, helfen und ihn unterstützen, denn dann können sich die Labyrinth-Alben nicht mehr vermehren oder Nahrung finden. Das können Freunde, Verwandte oder auch professionelle Lebenswegbegleiter wie Sozialarbeiter und Psychotherapeuten sein.
Alle positiven Gefühle wie seelische Ausgeglichenheit, Freude, Liebe, Glück, Hoffnung, Selbstzufriedenheit sind für Labyrinth-Alben toxisch. Brandgefährlich wird es, wenn der Wirt sich eines Tages traut, sich mit seinen traumatischen Erlebnissen auseinanderzusetzen, er einzelne biografische Puzzleteile zu einem großen Ganzen zusammensetzt, die Existenz der Labyrinth-Alben realisiert und schlimmstenfalls auch noch alles zu verarbeiten beginnt, denn dann lähmen die Toxine die geschwächten Labyrinth-Alben und drängen sie in ihr Verlies zurück. Wenn die Albengifte eine überdauernde Wirkung haben, die menschlichen Unterstützer heilsam helfen können, sich die Lebensumstände des Wirtes stabil ändern und verbessern, drohen die Labyrinth-Alben langsam zu verhungern oder an Atemlähmung im Verlies zu sterben.
Es gibt also wirkungsvolle Waffen, um diese widerwärtigen Parasiten der Finsternis zu bekämpfen und in Schach zu halten, bevor es irgendwann zu spät ist. Meistens jedoch werden die Labyrinth-Alben einfach nur vorübergehend vergessen, verdrängt oder nicht mehr wahrgenommen und sie wittern jede kleinste Chance, um sofort wieder aufzusteigen und zu Kräften zu kommen.
Dezember 2020
(aus: »Die Labyrinth-Alben Aufbruch aus der seelischen Dunkelheit«, 2024, S. 11-14)